PROLOG
Wenn einer eine Reise tut …
Was du machst, und nicht, was du sagst, verrät, wer du wirklich bist.
NORWEGISCHES SPRICHWORT
Dortmund, Herbst 2013
»Ihr seid verrückt«, sagen uns einige. Andere halten uns für mutig. Und wir? Wir sehen das ein wenig anders. Wir tun eigentlich nur etwas, worauf wir richtig Lust haben.
Ob wir verrückt sind?
Vielleicht.
Mutig?
Keine Ahnung.
Voller naivem Optimismus und Vertrauen ins Leben?
Aber hallo!
Das Ganze nimmt an einem stürmischen Abend im Herbst 2013 seinen Anfang. Ich sitze in meinem Lieblingssessel – eine Tasse Tee vor mir auf dem Tisch und meinen E-Book-Reader in den Händen. Meine Frau Maria, mit der ich seit zehn Jahren verheiratet bin, und unsere vier Kinder, Lydia, Amy, Aaron und Filippa, schlafen bereits, wodurch es im Haus wunderbar still ist. Das Einzige, was ich hören kann, ist das gedämpfte Dröhnen eines Sturms, der mir aber nichts anhaben kann, hier in meinem sicheren Versteck.
Das Buch Be A Free Range Human von Marianne Cantwell handelt davon, wie man sich als Selbstständiger ein Leben aufbauen kann, in dem man mehr Zeit zum Leben und Reisen hat und weniger arbeiten muss. Ein Thema, das mich schon länger beschäftigt. Maria und ich spüren viele kleine Sehnsüchte in uns. Wir hätten gerne mehr Zeit, würden gerne naturverbundener und einfacher leben. Wir würden am liebsten arbeiten, weil es uns Spaß macht und um etwas zu kreieren, was andere Menschen bewegt, und nicht weil wir es müssen. Viele Wünsche auf einmal, könnte man meinen, oder dass wir etwas vernünftiger – und realistischer – werden sollten. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich mir mehr vom Leben wünsche. Was ist alles möglich, wenn wir auf unser Herz hören und neue Dinge ausprobieren?
Ich stelle die Tasse zurück auf den Tisch, ziehe die Knie an und lese weiter. Nichts lässt mich besser entspannen als ein gutes Buch.
Doch dann schrecke ich plötzlich zusammen und höre auf zu lesen. Meine Augen ruhen auf der Zeile, deren Worte in meine Gemütlichkeit eindringen wie ein Stachel in meine Haut. Es ist nur ein einziger Satz, doch er drückt etwas aus, das ich tief in mir drin schon lange gefühlt habe, doch selbst nicht in Worte fassen konnte.
Anstatt zu überlegen, wann du deinen nächsten Urlaub machst, solltest du vielleicht lieber dein Leben so gestalten, dass du nicht davor fliehen musst.
SETH GODIN
Ich spüre förmlich, wie mein Herz schneller und lauter schlägt. Ich lese die Zeile wieder und wieder. Schließlich lege ich das Buch zur Seite, schließe die Augen und lasse den Sinn dieser Worte auf mich wirken.
Mir wird bewusst, dass ich höchstpersönlich Herr meines Lebens bin und dass ich viel zu viele Entscheidungen im Leben getroffen habe, ohne wirklich auf mein Herz zu hören. Stattdessen habe ich einfach das getan, was von mir erwartet wurde.
Das fängt schon mit diesem Haus an, in dem ich mich bis zu diesem Augenblick so wohlgefühlt habe. Mein Blick wandert über die Raufasertapete, die ich selbst an die Wand geklebt und gestrichen habe, dann zu den Möbeln und schließlich zum Parkettboden, den wir uns nur fürs Wohnzimmer leisten konnten. Ganz nett hier, aber ist das alles?
Ein Leben lang Schulden abzubezahlen, damit wir, wenn wir in Rente gehen, perfekt abgesicherte Hausbesitzer sind, die verreisen, sich entspannen und das Leben endlich genießen können, fühlt sich plötzlich wie die dämlichste Idee aller Zeiten an. Wer weiß, ob wir dann noch in der Lage sind, das Leben überhaupt zu genießen? Vielleicht ist dann einer von uns – oder wir beide – dafür zu krank oder schon längst tot.
»Ich darf und will jetzt leben«, sage ich in die Stille hinein. Und meine Stimme hört sich plötzlich ganz fremd an. »Und wenn jemand anderer Meinung ist, dann kann mir das absolut egal sein. Verdammt, ich darf mein Leben komplett selbst in die Hand nehmen. Und warum sollte ich auch nicht?« Mir fällt kein einziger guter Grund ein, warum ich dem Strom weiterhin folgen soll. Warum soll ich so leben wie alle anderen und das tun, was alle anderen tun? Hauptsache vorsorgen und einen sicheren – und leider heißt das viel zu häufig auch langweiligen – Job haben. Bloß nichts erleben, denn dabei könnte ja etwas passieren.
Meine Gedanken rasen, und ich spüre eine Lebensfreude wie lange nicht mehr.
Ein Mann in der Midlife-Crisis, könnte man jetzt denken. Und dass mir mein Leben nicht gefällt, oder dass ich unglücklich bin. Aber so ist es nicht. Erstens bin ich erst Anfang dreißig, und zweitens liebe ich meine Frau und meine vier Kinder über alles. Ich habe viele gute Freunde und einen Job als freiberuflicher Übersetzer, der ganz in Ordnung ist. Finanziell geht es uns zwar nicht wirklich gut, aber wir sind immer halbwegs über die Runden gekommen. Eigentlich verdiene ich gut genug. Das Problem ist, dass ich zu undiszipliniert bin. Es gibt immer andere Projekte, die mir mehr Spaß machen, die allerdings auf absehbare Zeit kein Geld bringen. Vielleicht auch nie, das weiß man nicht so genau. Aber ich bin eben ein Träumer. Und dann taucht beim Übersetzen eine Melodie oder irgendeine Idee in meinem Kopf auf, die dringend zu Papier gebracht werden muss. Tue ich das nicht, kann ich mich beim Übersetzen nicht mehr konzentrieren, weil die Gedanken mich nicht loslassen. Und schon ist der halbe Arbeitstag weg.
Es ist mir etwas peinlich, das zuzugeben, aber es ging tatsächlich so weit, dass wir in unseren zwölf Jahren in Dortmund meistens unter der Armutsgrenze gelebt haben. Ein Haus haben wir uns trotzdem gekauft. Komplett von der Bank finanziert. »Eure Zahlen passen vorne und hinten nicht«, sagte damals der Bankangestellte, nachdem er sich unsere finanzielle Situation angeschaut hatte, »aber ich vertraue euch irgendwie. Keine Ahnung warum, ist einfach nur so ein Bauchgefühl.«
Trotz unserer wenig rosigen finanziellen Situation ist unser Leben hier in Ordnung. In diesem Augenblick wird mir dennoch klar, dass ich mich nach mehr Freiheit und mehr Zeit sehne.
Wann haben wir uns eigentlich für dieses Leben entschieden? Gibt es nicht etwas Sinnvolleres irgendwo da draußen? Wozu der ganze Stress und die unzähligen Verpflichtungen? Wer hat festgelegt, dass das Leben so aussehen soll, und warum machen wir alle blind mit?
Ich springe auf. Das Buch fällt polternd zu Boden.
»Wir können machen, was wir wollen, verdammt!«, höre ich mich sagen. Wir müssen kein vorgeschriebenes 08/15-Leben führen, nur weil das die meisten so machen, wir müssen keinen Erwartungen entsprechen.
Ich denke zurück an meine Zeit als Jugendlicher und junger Erwachsener und realisiere, wie ich mich unbewusst von den Erwartungen der Gesellschaft und anderer Menschen beeinflussen ließ, die viel zu viel Macht über mich hatten.
Und während ich in meinem Wohnzimmer stehe und grüble, wird mir bewusst, dass das Gedanken sind, die schon seit Längerem in mir geschlummert haben, allerdings verborgen und wie einzelne Puzzleteile, die nicht zusammenpassen. Dieser eine Satz des Buches fügt jetzt plötzlich alle Teile zu einem Gesamtbild zusammen und gibt ihnen Sinn. Er ist wie ein Tritt in den Hintern. Als würde das Leben höchstpersönlich an die Tür klopfen und sagen: »Hey, kapierst du es immer noch nicht? Wie viele Zeichen muss ich dir noch geben? Dein Leben ist ein Geschenk. Pack es doch endlich aus!«
In diesem Augenblick fängt all das an, wie verrückt in mir zu toben. Es dauert nicht lange, bis mir die Idee in den Sinn kommt, eine Weltreise zu machen.
Was für ein befreiender Gedanke!
Eine Weltreise als Neuanfang.
Für ein ganzes Jahr.
Eine Reise, auf der wir uns als Familie neu ausrichten und herausfinden können, was uns wirklich wichtig ist und wie wir leben möchten. Ich merke, wie immer mehr Fragen in mir auftauchen, die ich mir – und meiner Familie – nie zuvor gestellt habe.
Was macht uns glücklich?
Führen wir eigentlich das Leben, das wir führen wollen?
Wenn es so viele Möglichkeiten und Lebensmodelle gibt, warum machen wir uns nicht auf die Suche und finden heraus, was am besten zu uns passt?
Vielleicht wird eine solche Reise ins Unbekannte uns die Antworten auf all diese Fragen geben?
In den letzten Jahren haben Maria und ich bewusst oder unbewusst vieles getan, um uns von unserer dunklen Vergangenheit in einer christlichen Sekte in Norwegen zu befreien. Dort wurden wir einer Gehirnwäsche unterzogen, die uns die Fähigkeit geraubt hat, selbst zu denken und auf unser Herz zu hören. Wir wurden dort zu engstirnigen, schwarz-weiß denkenden Marionetten eines fast schon psychopatischen Priesters erzogen, die darauf getrimmt waren, andere Menschen zu erreichen und in die Sekte zu bringen. Mit zwanzig Jahren wurden wir von dieser Sekte als Missionare nach Deutschland geschickt, um dort Menschen mit der »frohen Botschaft« zu erreichen und eine Art Glaubensgemeinschaft aufzubauen. Doch nicht wir änderten die Menschen in Deutschland, sondern das Land änderte vielmehr uns.
Zum Glück.
Im Laufe der Zeit haben wir viele kleine Schritte gemacht, bei denen wir bewusst gegen die Erwartungen der Leute in der Kirchengemeinde – so bezeichnete sich die Sekte – gehandelt haben, um Stück für Stück mutiger und freier zu werden. Es war schlichtweg ein Lernprozess, bei dem wir geübt haben, eigene Entscheidungen zu treffen, unabhängig von den Meinungen anderer.
Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, der ganzen Welt zu zeigen, dass es unser Leben ist, denke ich, während ich im Zimmer auf und ab laufe – ich brenne förmlich. Nichts kann mich mehr an meinem Platz halten.
Innerlich bereite ich mich darauf vor, meine Gedanken mit Maria zu teilen. »Wir werden dieses Leben so gestalten, wie es uns gefällt, völlig egal, was andere darüber denken mögen!«
Ich fühle mich so leicht und aufgewühlt wie lange nicht mehr und bin fest entschlossen, die erste Gelegenheit, die sich bietet, zu nutzen, um Maria in meine Überlegungen einzuweihen.
Am nächsten Morgen stehe ich mit den Kindern alleine auf, frühstücke mit ihnen und bringe die drei Ältesten in die Schule und in den Kindergarten. Auch Filippa, die Kleinste, nehme ich mit, damit Maria noch ein bisschen schlafen kann. Sie hat in den letzten Tagen sehr viel um die Ohren gehabt, also kümmere ich mich heute um alles.
Als Filippa und ich zurückkommen, sitzt meine Frau bereits am Frühstückstisch und schmiert sich ein Brötchen, eine Tasse Tee vor sich auf dem Tisch. Sofort teile ich meine Gedanken mit ihr und bin gespannt auf ihre Reaktion. Diese beendet meinen Höhenflug allerdings ziemlich abrupt.
»Was sollen wir denn ein ganzes Jahr lang machen? Wir können doch nicht ein Jahr Urlaub machen, ohne dass die Reise einen tieferen Sinn hat!«
Schon von Kindesbeinen an ist uns eingeimpft worden, dass alles, was wir tun, entweder Gott oder der Kirchengemeinde dienen muss. Etwas nur für uns selbst zu tun, vor allem in dieser Größenordnung, scheint für Maria unvorstellbar, und ich kann es ihr nicht übel nehmen. Denn ich hätte vor ein oder zwei Jahren genau so reagiert wie sie. Der einzige Grund, warum ich in meinem Befreiungsprozess ein wenig weiter bin, ist, dass ich nicht mein ganzes Leben in der norwegischen Sekte verbracht habe, so wie sie. Ich bin erst als Jugendlicher dazugekommen, und die Gehirnwäsche sitzt bei mir nicht ganz so tief wie bei ihr. Außerdem würden vermutlich die wenigsten Leute eine Weltreise mit vier Kindern unternehmen, egal was für eine Vergangenheit sie haben.
Als die Kinder abends im Bett sind, versuche ich erneut, mit Maria über das Thema zu sprechen, aber ich spüre, wie sich alles in ihr dagegen sträubt.
Ihr Widerstand führt dazu, dass die spontane Idee von einer Weltreise fast genauso schnell verschwindet, wie sie gekommen ist. Wir gehen schlafen. Und während ich neben Maria im Bett liege und ihren tiefen Atemzügen lausche, verfliegt meine Euphorie und lässt mich allein in der Dunkelheit zurück. Habe ich mich zu sehr in ein bloßes Gefühl hineingesteigert? Es kommt nicht selten vor, dass Maria mich zurück auf den Boden der Tatsachen holen muss. Manchmal sind meine Ideen zwar gut, aber oft auch nicht. Meistens vertraue ich dann ihrem Urteil, aber dieses Mal fällt es schwer loszulassen. Und dennoch: Ohne ihre Unterstützung kann ich die Weltreise sowieso nicht durchziehen. Somit verliere ich meinen Traum in den kommenden Wochen immer mehr aus den Augen.
Mehrere Monate vergehen, ohne dass ich weiß, dass ein kleiner Samen in Marias Herz gesät worden ist.
»Thor, ich muss mit dir reden.« Wir sitzen draußen vor unserem Haus. Die Sonne ist gerade untergegangen, die Kinder liegen in ihren Betten.
Ich mag diese Worte zu Beginn eines Gesprächs nicht. Sie machen mich nervös, klingen irgendwie drohend und unheilverkündend. Vielleicht weil sie mich an unsere Zeit in der Sekte erinnern. Da verhieß eine solche Einleitung nie etwas Gutes. Sie bedeutete vielmehr, dass ich wieder etwas falsch gemacht hatte. Einen Fehler, auf den mich unser Priester hinwies, für den er mich zurechtweisen wollte. Doch Marias Worte sind anderer Natur.
»Ich hab gestern von einer Familie gelesen, die eine Weltreise gemacht hat. Mit fünf Kindern. Eins davon sitzt sogar im Rollstuhl!«
Die Worte klingen in der behaglichen Stille nach. Maria sieht mich aus ihren großen grünen Augen an. Ohne dass ich es mitbekommen habe, hat Maria in den letzten Monaten unzählige Reiseblogs durchstöbert und sich intensiv mit dem Thema Weltreise beschäftigt. Ihre Folgerung hängt unausgesprochen in der Luft: »Wenn die das schaffen, dann wir doch auch, oder?«
Ich atme tief ein. Und bekomme Angst vor unserem naiven Optimismus. Plötzlich ist Maria diejenige, die reisen will, und ich derjenige, der überzeugt werden muss. Allerdings braucht sie nicht lange. Denn mein Traum vom Reisen und von Freiheit konnte natürlich so schnell nicht wieder verschwinden. Es dauert nicht lange, bis all das wieder an die Oberfläche gelangt, was ich vor einem halben Jahr so stark gespürt habe.
Und so beginnen wir mit der Planung unseres Abenteuers. Im Sommer 2015 – also in eineinhalb Jahren – zu starten, scheint uns eine gute Idee, denn dann wird unsere älteste Tochter Lydia mit der Grundschule fertig sein. Bis dahin haben wir genug Zeit, um uns vorzubereiten und herauszufinden, was wir mit dem Haus machen wollen, das wir nur drei Jahre zuvor bei einer Zwangsversteigerung erworben haben.
Die Reisepläne beflügeln uns, und auch wenn die Reise noch lange nicht angefangen hat, spüren wir, dass sie uns jetzt schon verändert. Der Alltag ist zwar noch der gleiche, aber wir fühlen uns auf seltsame Weise freier und lebendiger, und das Leben scheint plötzlich ein einziges großes Abenteuer zu sein, bei dem alles möglich ist. Es fühlt sich tatsächlich wie eine Art Neugeburt an.
Auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben haben wir schon lange mit den Ketten unserer Vergangenheit gerungen. Dabei haben wir viele kleine Siege erlebt, die sich wahnsinnig gut angefühlt haben. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Glücksrausch, den wir jetzt erleben.
Beflügelt von diesem Freiheitsgefühl, entscheiden wir uns dafür, das Haus nicht – wie ursprünglich gedacht – zu vermieten, sondern zu verkaufen, damit wir völlig frei sind und während der Reise keine Verpflichtungen in Deutschland haben. Mit der Entscheidung, es zu verkaufen, fällt uns ein riesengroßer Stein vom Herzen.
»Hey Thor, weißt du, was das bedeutet?«, sagt Maria mit strahlenden Augen, »wenn es uns irgendwo gefällt, zum Beispiel auf einer tropischen Insel, könnten wir theoretisch dort bleiben.«
»Und ich arbeite dann dort als Übersetzer?«
»Ja, genau, solange du eine Internetverbindung und deinen Laptop hast, kannst du doch von überall aus Texte übersetzen und damit Geld verdienen!«
Wir sitzen vor unserem kleinen Haus in Dortmund, dem wir schon bald für immer den Rücken zuwenden werden. Vor uns auf dem Gartentisch liegt die Liste mit Dingen, die wir vor unserer Abreise noch erledigen müssen. Marias Gedanken gefallen mir sehr gut. Freiheit war mir schon immer wichtig. Bereits als kleiner Junge habe ich davon geträumt, einen unabhängigen Job zu haben, vielleicht als Journalist. Dabei habe ich diesen Freiheitsdrang nie wirklich ausgelebt. Bis auf ein paar Ausnahmen. Eine Zeit lang habe ich zum Beispiel versucht, mein Geld als Musiker zu verdienen. Und auch der Job als freiberuflicher Übersetzer ist so eine Ausnahme. Hätte ich den nicht, könnten wir auch die Weltreise kaum finanzieren. Das Haus ist nämlich nicht viel mehr wert als die Summe, die wir der Bank schulden. Für unser altes Auto bekommen wir auch kaum noch was. Also werde ich unterwegs arbeiten müssen, damit wir nicht nach wenigen Monaten irgendwo festsitzen, ohne Geld für ein Rückflugticket.
Die bevorstehende Weltreise stellt unser Leben komplett auf den Kopf. Wir sehen unser Leben aus einer neuen Perspektive, hinterfragen alles und beschäftigen uns mit vielen neuen Dingen, von denen wir vorher keine Ahnung gehabt haben. Dazu gehört unter anderem ein minimalistischer Lebensstil, den wir sofort als sinnvoll empfinden.
Alles, was wir besitzen und nicht wirklich brauchen, ist eine unnötige Last, lesen wir. Wir sammeln immer mehr Müll an, benötigen irgendwann ein großes Haus oder eine große Wohnung, um das ganze unnötige Zeug unterbringen zu können, und gehen das ganze Leben arbeiten, um diese Lagerstätte abzubezahlen. Und wenn wir zu Hause sind, verbringen wir unsere Zeit damit, die große Unterkunft und alles, was dort aufbewahrt wird, zu putzen und in Schuss zu halten. Um von dort wieder zur Arbeit zu kommen, benötigen wir noch ein schickes neues Auto, was ebenfalls bezahlt werden muss. Schon ist unser Leben ein einziges riesiges Hamsterrad geworden, aus dem wir erst mit siebenundsechzig Jahren entkommen.
Uns wird immer klarer, dass das nicht unser Ding ist. Wir wollen lieber frei und unabhängig sein und vor allem ganz viel Zeit haben. Das kostbarste Gut, das es gibt.
Bei der Packliste für die Reise und beim Ausmisten vor dem Hausverkauf beginnen wir also direkt damit, unsere neue Lebensphilosophie anzuwenden. Wir entscheiden uns dafür, nur das Allernötigste mit auf die Reise zu nehmen, und verschenken, verkaufen oder verschrotten alles aus unserem Haus, was uns nicht wirklich wichtig ist. Dabei stellen wir schnell fest, dass wir uns tatsächlich nach jedem losgewordenen Gegenstand leichter und freier fühlen.
Während wir hin- und her- und aus- und wegräumen, führen Maria und ich intensive Gespräche darüber, was wir von unserer Reise um die Welt in 365 Tagen erwarten.
»Weißt du«, sagt Maria, als sie gerade einen Schwung Tupperdosen zum Mitnehmen an die Straße stellt. »Eigentlich habe ich gar keine Lust mehr darauf, in der Stadt zu leben.«
Maria spricht damit aus, was auch mir schon seit Langem durch den Kopf geht. Offenbar spüren wir beide tief in uns eine Sehnsucht nach einem einfachen Leben in der Natur. Gerne ein wenig altmodisch, mit ein paar Tieren und einem kleinen Gemüsegarten. Wir können nicht genau erklären, warum, es fühlt sich einfach richtig an. So als wären wir für ein solches Leben geschaffen, als wüssten wir es nur nicht mehr, weil wir viel zu lange in einer künstlichen Parallelwelt gelebt haben.
»Denkst du, wir bekommen das hin?«, fragt Maria zögerlich.
»Das werden wir schon sehen.«
Wir beschließen, die Weltreise als eine Art Testprojekt zu sehen, bei dem wir herausfinden wollen, wie es sich anfühlt, mit sehr wenig Luxus zu leben, dafür aber mit sehr viel Zeit, Natur und Freiheit.
Alle diese Gedankenprozesse gehen extrem schnell voran. Wir reden ständig über unser Vorhaben und verschlingen Blogartikel und Bücher über die Themen Reisen, Freiheit, Minimalismus oder inspirierende Menschen, die ein selbstbestimmtes Leben abseits des Hamsterrades unserer Leistungsgesellschaft führen.
Und mitten in diesem Rausch buchen wir sechs One-WayTickets nach Bangkok. »Von dort aus können wir dann schauen, wie es weitergeht«, sagen wir uns, und allein dieser Satz lässt unsere Herzen fast platzen vor Vorfreude.
Die Tickets sind so günstig, dass wir direkt zuschlagen, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nichts geklärt ist, weder mit der Schule noch mit unserem Haus, das noch verkauft werden muss. Allerdings setzen wir damit ein Zeichen für uns selbst. Die Reise ist jetzt nicht nur ein Plan oder ein Traum, sondern real. Ganz offiziell.
In den nächsten Monaten beschäftigen wir uns fast täglich mit unserer Reise.
Wo soll es hingehen? Was ist mit Impfungen, und was muss sonst noch alles beachtet werden? Wollen wir doch lieber teure »Around-The-World-Tickets« kaufen, bei denen wir schon jetzt sämtliche Stationen inklusive Reisedaten festlegen müssen?
All diese Fragen und vor allem die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten erschlagen uns fast, und uns wird schnell klar, dass wir die Reise nicht genau im Voraus planen wollen. Wenn wir etwas von ihr lernen möchten, müssen wir flexibel sein und uns treiben lassen, damit wir überhaupt auf die Zeichen, die sie uns gibt, reagieren können. Wir wollen uns auf die Orte, die wir besuchen, und auf die Menschen, denen wir begegnen, einlassen können. Und so soll die Reise, auf die wir uns begeben, ihre eigene Geschichte schreiben. Sie soll sich entfalten dürfen, wie es ihr gefällt, und uns immer wieder aufs Neue überraschen. Drei Tage hier, einen Tag dort, und das Abklappern der obligatorischen Sehenswürdigkeiten ist nichts für uns. Wir werden uns Orte suchen, die uns gefallen, um dann eine Weile dort zu bleiben und zur Ruhe zu kommen, um die Kultur, die Natur und all die Eindrücke auf uns wirken zu lassen. Begegnen wir anderen Reisenden, werden wir uns vermutlich Geschichten beim Sonnenuntergang erzählen, Geheimtipps austauschen und vielleicht sogar Freundschaften schließen. Jeder Tag soll wie eine neue Seite eines spannenden Buches sein, das man nicht mehr weglegen möchte.
Wenn die Zeit zum Aufbruch kommt, dann werden wir das schon spüren. Dann packen wir unsere Rucksäcke und ziehen einfach weiter. Vielleicht hören wir eine Geschichte über einen magischen Ort, den wir unbedingt sehen wollen. Und vielleicht kommen wir da auch nie wirklich an, weil wir auf dem Weg dorthin über einen anderen Ort stolpern, in den wir uns verlieben, oder weil wir Leuten begegnen, die uns auf andere Gedanken bringen.
Dann wird eben alles anders.
Und das ist dann auch gut so.
KAPITEL 1
Aufbruch und Zweifel
Man kann die Wirklichkeit des Lebens nicht erkennen, bevor man am Abgrund gestanden hat.
NORWEGISCHES SPRICHWORT
Dortmund, Juni 2015
»Wach auf, Baby!«, flüstere ich leise, während ich Maria über das Gesicht streichle, »heute ist der große Tag, es geht endlich los!«
Sie dreht sich zu mir, macht die Augen auf und lächelt verschlafen, bevor sie wieder eindöst.
»Komm schon, wir müssen Gas geben! Der Wecker hat schon zwei Mal geklingelt.« Ich schüttele sie leicht und gehe zu den Kindern, um auch sie zu wecken. Sie liegen auf Matratzen, direkt auf dem Boden. Daneben kleine Stapel mit der Kleidung für den Abreisetag. Ansonsten ist die Wohnung völlig leer.
Schon seit wir das Haus vor drei Monaten verkauft haben, wohnen wir in dieser provisorischen Wohnung, die sich im Haus einer befreundeten Familie befindet. Lea, Peter und ihre beiden Söhne haben wir vor acht Jahren kennengelernt, als sie auf Wohnungssuche in Dortmund waren und sich die Wohnung über uns angeschaut haben. Sie sind Russlanddeutsche, sparsam, geduldig, großzügig und warmherzig. Wir lieben sie, und hier zu wohnen, ist der perfekte Übergang zu unserem großen Abenteuer gewesen. Ein kleiner Neuanfang vor dem großen Neuanfang sozusagen. Es hat sich tatsächlich ein bisschen wie Urlaub angefühlt. Dabei haben wir die letzten Monate hier auf dem Fußboden verbracht – fast ohne Möbel und nur mit dem Allernötigsten.
Ich blicke mich ein letztes Mal um, bevor wir diese Wohnung für immer verlassen. Die Wände sind kahl, der Raum fast leer. Schön ist es hier vielleicht nicht, aber es hat uns an nichts gefehlt. Die Trennung vom Haus und von dem ganzen Kram, den wir nicht brauchen, fühlt sich in diesem Moment unglaublich gut an. Nichts hält mich hier. Keine Verpflichtungen, kein Darlehen. Alles, was wir voraussichtlich für ein ganzes Jahr benötigen, befindet sich in unseren sechs Rucksäcken, die fertig gepackt im Flur stehen. Dieser Gedanke und das damit verbundene Freiheitsgefühl überwältigen mich fast. Es hält uns nichts. Nirgendwo.
Gleichzeitig beschleicht mich ein anderes Gefühl, während ich ein letztes Mal durch die Wohnung gehe – ein Gefühl, das mich in letzter Zeit immer wieder mal überfallen hat: die Angst vor dem Unbekannten.
Bis vor Kurzem habe ich es nie verstanden, wenn Leute uns wegen unseres Vorhabens für mutig gehalten haben. Wir haben doch ausschließlich Vorfreude empfunden. Die Angst und die Zweifel sind erst jetzt aufgetaucht, wenige Tage bevor wir alles hinter uns lassen wollen. Sowohl bei Maria als auch bei mir. Dortmund ist unsere Heimat geworden, viel mehr als es Norwegen jemals gewesen ist. Wir lieben diese Stadt und ihre Menschen seit Jahren, doch erst in den letzten Tagen ist uns das Ausmaß dieser Liebe bewusst geworden. Man weiß erst, was man hat, wenn man es verliert, diese Worte gehen mir einmal mehr durch den Kopf, als ich ans Fenster trete und meinen Blick über die vom Morgenlicht beschienenen Dächer Dortmunds schweifen lasse. Nur haben wir es uns selbst ausgesucht.
Maria hat immer viele tiefgehende Freundschaften gehabt. Und sie findet schnell neue Freunde. Mir waren intensive Freundschaften nie wirklich wichtig. Ich habe immer gedacht, dass mir meine eigene Gesellschaft und die meiner Familie reicht. Wenn ich dann noch ein paar Jungs zum Fußballspielen oder Burgeressen hatte, war für mich alles perfekt.
Ich erinnere mich sogar an einen Freund aus unserer Kirchengemeinde in Dortmund, der sich mir öffnete und anvertraute, dass er sich nach Freundschaften sehne, die tiefer gehen: »Bevor ich nach Dortmund umgezogen bin, hatte ich mehrere solche Freundschaften«, erzählte er mir, »und jetzt fehlt mir das total.« Es war offensichtlich, dass er wissen wollte, ob ich an einer solchen Freundschaft Interesse hatte. Meine Antwort ist mir heute etwas peinlich. Mein einziger Trost ist, dass ich ehrlich war: »Ich brauche keine Freundschaften«, sagte ich ihm damals. »Ich bin mit mir selbst glücklich, und ansonsten reichen mir meine Familie und die Dinge, die wir Männer aus der Kirchengemeinde ab und zu miteinander unternehmen.«
Ich hatte damals noch wenig Ahnung, wer ich war, und mir war nicht klar, dass auch ich tiefe Freundschaften brauche. Erst jetzt, da wir dabei sind, Dortmund den Rücken zu kehren, wird mir das richtig bewusst. Plötzlich merke ich, dass es tatsächlich eine Handvoll Leute gibt, die ich nur sehr ungern verlasse. Menschen, mit denen ich viel erlebt habe und die mir über die Zeit richtig ans Herz gewachsen sind.
»Ich hab so ein Gefühl, dass ihr nicht wiederkommen werdet«, hat uns Jenny noch vor ein paar Tagen gesagt und uns dabei traurig angeschaut. Sie ist eine gute Freundin, die während unserer gesamten Zeit in Dortmund mit uns durch dick und dünn gegangen ist.
»Doch, doch, wir kommen schon zurück«, hat Maria geantwortet. Doch wir beide sind uns nicht mehr so sicher. Wir haben ein bisschen Angst davor, dass wir woanders tatsächlich das Leben finden, das wir eigentlich leben wollen, und dass dieser Abschied vielleicht doch für immer sein könnte. »Da bin mir zu achtzig Prozent sicher«, hat Maria nach einer kurzen Denkpause hinzugefügt. Vor einem Jahr hätten wir wohl gesagt, dass die Chancen fünfzig zu fünfzig stehen. Schließlich wollten wir alles offenlassen, unser Leben komplett überdenken und herausfinden, wie wir leben möchten. Doch je näher der Tag der Abreise rückte, desto wahrscheinlicher fühlte es sich für uns an, nach Dortmund zurückzukehren. Einfach deshalb, weil uns nach und nach klar wurde, was wir in dieser Stadt und in diesem Land alles hatten – vielleicht aber auch, um unsere Freunde und auch uns selbst zu trösten.
»Hey, ihr werdet euch die Welt ansehen, Freunde. Ihr seid auf der Suche nach einem anderen Lebensmodell. Ihr werdet traumhafte Orte sehen. Wie soll Dortmund da mithalten können? Es ist quasi Dortmund gegen den Rest der Welt«, gab Jenny resigniert von sich, »juhu, heja BVB!«
»Wegen dir«, gab Maria zurück, »kann Dortmund locker mithalten. Dich gibt es nur hier!«
Es sind hauptsächlich unsere Freunde, die den Abschied schwer machen, aber dazu kommt, dass Dortmund und Deutschland unsere Heimat geworden sind. Unser sicherer Hafen. Hier kennen wir die Kultur, hier wissen wir, wie die Menschen ticken. Wir waren fast noch Kinder, als wir hierhergezogen sind, und sind in Dortmund quasi erwachsen geworden. Bei unseren Besuchen in unserer alten Heimat Norwegen haben wir uns im Vergleich dazu in den letzten Jahren immer fremd gefühlt.
Doch egal, wie sehr es uns hier gefällt, egal, wie sehr es jetzt kurz vor der Abreise plötzlich schmerzt, all das hier zu verlassen, und auch wenn wir plötzlich auch ein wenig mit Zweifeln kämpfen müssen: Tief in uns drin wissen wir, dass es Zeit für Veränderung ist. Dass wir hier rausmüssen, damit wir wirklich verstehen können, was wir wollen und was uns wichtig ist. Es ist Zeit für einen kompletten Neuanfang, bei dem wir uns selbst und unsere tiefsten, innersten Wünsche, Bedürfnisse und Träume kennenlernen können. Ohne einen solchen Ausbruch und ohne unseren inneren Kompass komplett zurückzusetzen, werden wir nicht in der Lage sein, das zu tun. Weil unser Blick dann immer noch getrübt wäre von all den Selbstverständlichkeiten, die unser Leben ausmachen und die uns das Hinterfragen schwer machen.
Mein Blick fällt auf die Kinder, die immer noch schlafend auf ihren Matratzen liegen. Sie sehen so schön aus, so unbesorgt. Ich spüre in diesem Augenblick eine tiefe Liebe zu ihnen. Wie kann es sein, dass ich trotzdem so oft mit ihnen schimpfe? Im Alltagsstress gehen wir uns schnell auf die Nerven. Vielleicht weil wir zu wenig Zeit haben, um uns gegenseitig wirklich zuzuhören und zu verstehen.
Es fängt schon morgens an, wenn die Kinder in die Schule und in den Kindergarten gebracht werden müssen. Wenn Maria und ich dann mit der Arbeit fertig sind und die Kinder wieder da sind, gibt es andere Verpflichtungen. Ein Kind muss zum Turnverein, ein anderes möchte eine Freundin besuchen und muss gefahren werden, weil diese etwas weiter weg wohnt. Und dann gibt es in der Gemeinde wieder irgendein Problem oder eine Veranstaltung, um die wir uns kümmern müssen.
Wann haben wir Zeit, um einfach zu sein? Zusammen als Familie Zeit zu verschwenden? Irgendwie sind die wenigen Augenblicke am Tag, in denen wir alle zusammen sind, stressige Momente, weil wir dann meistens gerade auf dem Sprung sind. So bekommen wir hauptsächlich die schlechten Seiten voneinander zu sehen und haben zu selten die Zeit, um zusammen zur Ruhe zu kommen. Und genau das ist eins der Dinge, die wir im vor uns liegenden Jahr ändern werden. Wir werden unendlich viel Zeit haben. Ein Jahr lang keine Eile. Ein ganzes Jahr einfach sein, jeder für sich und gemeinsam als Familie.
Ich beschließe, den Kindern während dieser Reise mehr Zeit zu schenken. Ich will sie sehen. Sie sollen richtig spüren, dass ich Zeit für sie habe. Ich will mich ganz auf sie einlassen und ihre Wünsche, Sorgen und Gedanken verstehen. Sie sind mir extrem wichtig, das wissen sie auch. Aber ich möchte, dass sie es nicht nur in ihren Köpfen wissen, sondern richtig in ihren Herzen spüren. Und das können keine schönen Worte bewirken, sondern nur Taten.
Für die Kinder ist diese Reise sowieso das Abenteuer schlechthin. Als wir ihnen von unseren Plänen erzählt haben, waren sie alle begeistert. Nur Lydia, unsere Älteste, hatte auch Bedenken. Im letzten Schuljahr vor unserer Reise haben alle in ihrer Klasse über die weiterführende Schule geredet, und es war sehr schwer für sie, nicht mitreden zu können. Sie wollte sich nicht von den anderen unterscheiden.
Manche ihrer Mitschüler haben ihr gesagt, dass es nicht gut für sie sei, ein Jahr lang keine Schule zu besuchen. »Du musst doch fleißig lernen, damit du später studieren und viel Geld verdienen kannst«, hat ihr ein Mädchen eingeredet, das die Noten für den Übertritt zum Gymnasium schon sicher in der Tasche hatte. Es war offensichtlich, dass sie ihre Ansichten von ihren Eltern hatte. Solche Kommentare waren nicht schön für Lydia, doch es half ihr, mit uns darüber zu sprechen. »An so eine Leistungsgesellschaft glauben wir nicht«, erklärte ich ihr. »Du bist noch ein Kind, Lydia. So wie deine Freundin geredet hat, sollte kein Kind reden oder denken müssen. Kinder sollen frei sein. Die Welt soll für Kinder in erster Linie ein riesiger Spielplatz sein. Und kein Ort, an dem es immer nur um Leistung geht.«
Um ihr die Sorgen zu nehmen, haben wir uns mit ihr darüber unterhalten, wie viel sie von der Reise fürs Leben lernen würde, und über viele andere Vorteile, die so eine Reise hat. Mittlerweile freut sie sich genauso sehr wie wir alle auf das, was vor uns liegt.
Ich knie mich hin und küsse nacheinander alle vier Kinder auf die Wange. »Wach auf, unsere große Reise beginnt heute«, flüstere ich jedem ins Ohr.
Eine halbe Stunde später sitzen wir im Auto. Oft gibt es Stress und Auseinandersetzungen, wenn wir alle frühmorgens aus dem Haus müssen, doch wenn wir eine Reise unternehmen, arbeiten die Kinder auf eine Art und Weise mit, wie ich sie an ihnen nur selten erlebe. Vermutlich wegen der Aufregung, die diese kleinen und großen Abenteuer mit sich bringen. Ohne zu murren, sind sie aufgestanden, haben ihre Sachen angezogen und sind mit uns ins Auto gestiegen, ihre Rucksäcke zwischen den Beinen.
Unsere Freundin Lea fährt uns zum Bahnhof in Dortmund, wo wir uns zum Frühstück noch Brezeln kaufen, bevor wir in den Zug nach Hamburg steigen, von wo unser Flieger nach Norwegen geht. Die günstigen One-Way-Tickets, die wir nach Bangkok gebucht haben, gehen nämlich von Oslo. So können wir uns noch von unseren Familien verabschieden und drei, vier ruhige Wochen in einem Tipi mitten im Wald verbringen. Das Tipi und das dazugehörige Grundstück gehören seit Kurzem Marias Bruder. Unser Plan ist, dort erst mal richtig runterzukommen, nachdem die letzten Monate in Deutschland für Maria und mich sehr intensiv waren. Die Behördengänge, der Verkauf des Hauses und des Autos. Unzählige Verträge mussten gekündigt, unsere letzten Besitztümer an den Mann gebracht werden.
Außerdem war es ja nicht mit der Entscheidung getan, die Kinder für ein Jahr von der Schule zu nehmen – sie mussten offiziell befreit werden. Das Warten auf die Zusage der Schulleiterin, die erst kurz vor unserer Abreise per Post eingetrudelt ist, hat sich als regelrechte Nervenprobe herausgestellt. Es ist alles sehr viel stressiger gewesen, als wir uns vorgestellt hatten.
Das ist übrigens etwas, was Maria und ich nicht gut können: abschätzen, wie anstrengend und kompliziert ein Vorhaben sein könnte. Ich bin aber froh, dass wir ein gewisses naives Vertrauen ins Leben haben. Hätten wir all die Probleme und Herausforderungen, die bei einer solchen Reise entstehen können, schon vor der Reise im Geiste durchzuspielen versucht, hätte uns das sicherlich überfordert. Und wer weiß, vielleicht hätten wir die Reise dann gar nicht erst gemacht.
Geht man das Ganze ein bisschen naiver an und stellt sich den Problemen in dem Moment, in dem sie auftauchen, sind sie irgendwie lösbar. Wenn man sie dann einzeln bewältigen muss und nicht alle auf einmal, kriegt man es hin. Zumindest war das bisher in unserem Leben immer so, wenn wir uns in irgendwas gestürzt haben, ohne vorher groß zu überlegen.
Ein bisschen wie damals, als wir nach Deutschland gekommen sind, ohne die Sprache zu beherrschen und ohne hier irgendwelche Kontakte zu haben. Wir waren ganz auf uns allein gestellt und sollten eine Glaubensgemeinschaft aufbauen.
Für uns war das unser erstes großes Abenteuer.
Doch während wir damals gar keine Angst hatten, sieht das heute ein wenig anders aus. Vielleicht weil wir die Verantwortung für vier kleine Menschen tragen.
Während wir im Auto auf dem Weg zum Hauptbahnhof sitzen, frage ich mich, ob auch dieses Mal alles gut gehen wird, und ich spüre wieder, wie Zweifel und Angst mich packen. Ich atme tief ein: Bis jetzt hat alles ganz gut geklappt, oder nicht?
Während ich immer noch in Gedanken versunken bin, parkt Lea das Auto vor dem Nordeingang des Bahnhofs. Wir verabschieden uns in aller Eile von ihr und hasten in den Bahnhof und zum Gleis. Wir planen diese Reise zwar seit eineinhalb Jahren, aber spät dran sind wir natürlich trotzdem. Deshalb bleibt uns keine Zeit für große Gefühle. Erst als der Zug wenige Sekunden später losrollt und wir Lea durch das Fenster zuwinken, spüren wir einen Stich im Herz. Mindestens ein Jahr lang werden wir all diese wunderbaren Menschen, die wir hier in dieser Stadt so liebgewonnen haben, nicht mehr sehen. Und wer weiß, vielleicht werden wir auch nie wieder hier wohnen.
Im ICE schauen wir uns die vorbeifliegenden Häuser und Landschaften an, leicht geblendet von der aufgehenden Sonne, die unserem Aufbruch etwas Magisches verleiht. Filippa, unsere Jüngste, die gerade erst drei Jahre alt ist, schläft mit einer halben Brezel in der Hand und einem butterverschmierten Gesicht ein. Maria wischt die Butter mit einer Serviette weg und bettet Filippa vorsichtig auf zwei Sitze. Unser Gepäck, bestehend aus sechs Rucksäcken, einem Handgepäckkoffer mit Rollen und einer kleinen Gitarre, befindet sich auf den Sitzen vor uns.
Wir haben viel Zeit investiert, um eine Packliste zu erstellen, die sich auf das Allernötigste beschränkt. Und in diesem Moment fühlt es sich richtig gut an, mit so wenig Gepäck unterwegs zu sein. Anstatt zu überlegen, was wir alles im Laufe eines Jahres gebrauchen könnten – was natürlich eine Menge ist –, haben wir uns entschieden, bloß für eine Woche zu packen. Bei mir landeten lediglich fünf T-Shirts, zwei kurze Hosen, eine Badehose, sieben Boxershorts, sieben Paar Socken, ein Pulli und eine Hose im Rucksack. Ansonsten habe ich noch meinen Kulturbeutel, meinen E-Book-Reader und meinen Laptop zum Arbeiten dabei. Außerdem habe ich vor, einen Blog über unsere Reise zu verfassen – »Sechs Paar Schuhe« soll er heißen. Vielleicht stößt er auf Interesse, und unsere Reise kann andere inspirieren.
In den Taschen der anderen herrscht ähnliche Leere. Die Kinder durften lediglich zwei kleine Spielzeuge oder Kuscheltiere mitnehmen. Der einzige Luxusgegenstand, den wir uns genehmigt haben, ist die kleine Gitarre. Unser Gedanke: Lieber zu wenig als zu viel. Wenn Kleinigkeiten fehlen, kaufen wir sie vor Ort. Eine durchschnittliche Familie würde sicherlich das Doppelte für zwei Wochen Mallorca mitschleppen.
Ich schaue Maria in die Augen, und das, was noch übrig ist von der Unsicherheit, die mich vor Kurzem ein letztes Mal überfallen hat, verschwindet sofort. Sie ist meine Heimat,
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Liebe Grüße,
Thor